Erich Neumann: Johannissteine bei Lage – eine (vor-)frühgeschichtliche Kalenderanlage (In: Heimatland Lippe 77. Jahrgang - Nr. 1, Januar 1984 (Fortsetzung)

Abb. 3 soll veranschaulichen, in welcher Weise man sich die Funktion der beiden Fünfkantlöcher im Rahmen der steinernen Kalenderanlage vorstellen kann. Die beiden Fünfkantlöcher liegen genau auf der Linie (Azimut 130°), auf der in unseren Breitengraden die Sonne am 22.12. (WSW) aufgeht. Wird die in Abb. 1 dargestellte Erkenntnis mit der "zufälligen" Lage der beiden Fünfkantlöcher mathematisch kombiniert, ergibt sich die Wahrscheinlichkeit von 46656:1, daß dies nicht zufällig ist, nach folgender Rechnung:

w =  g x g x g = 1   x 1   x 1    =    __1__

       m  m   m   36    36    36        46656 

 

In Prozenten ausgedrückt: Zu 99,998 % sind die drei genannten Faktoren nicht zufällig. Zu 99,998 % sind die Johannissteine eine Kalenderanlage gewesen. (w = a priorische Wahrscheinlichkeit; g = Zahl der günstigen Ereignisse; m = Zahl der möglichen Ereignisse; Toleranz = + 2,50; d. h. absolut 50).

Der Zufall wird noch unwahrscheinlicher, wenn der aufmerksame Beobachter registriert, daß sich der Sonnenaufgang über der Achse der beiden Fünfkantlöcher zur Wintersonnenwende genau über dem Scheitelpunkt von Stein 2 vollzieht (s. Abb. 3). Hinzu kommen weitere Beobachtungen, die es noch schwerer erscheinen lassen, an „Zufälligkeiten" zu glauben:

1. So befinden sich die Joh.-St. auf dem Höhenrücken des Johannfeldes  von A. W. Peter als „Johannisberg" bezeichnet („Pflug im Wappen", Lage 1960). Der „Berg" bietet auch heute noch eine vorzügliche Rundsicht (Horizontprofil), nach R. Müller eine wichtige Voraussetzung für „eine Stätte der Sonnenbeobachtung"(„Der Himmel über dem Menschen der Steinzeit“, Berlin, 1970).

2. Liegen die riesigen Steine 1 und 2 nur „zufällig" so dicht beieinander? Clostermeier formulierte sein Erstaunen hierzu in folgender Weise: „Und vorzüglich merkwürdig ist es, zwey sich so auszeichnende Granitblöcke von beinahe gleicher Form und Größe so nahe beysammen ... zu sehen" (a. a. 0., S. 39).

3. Neben den drei Hauptsteinen deuten drei weitere Findlinge im Nahbereich auf eine mögliche größere Steinanlage (Steinkreis?) hin.

4. Die Anlage befindet sich in zentraler Lage innerhalb des westlippischen Hügellandes. Nur von diesem Punkt aus lassen sich im Jahresverlauf die Sonnenwenden und Tag­ und nachtgleichen an markanten Erhebungen des Horizontprofiles beobachten.

5. In diese Argumentation passen auch die drei Langkerben auf Stein 1 (Neumann/Lippek, a. a. 0., S. 47). Sie lassen sich als „geordnete" Strichzeichen erklären, die als „astronomische Merktafeln“ für himmelskundliche Beobachtungen, Berech­nungen und Erkenntnisse hilfreich gewesen sein könnten (Müller, Rolf, a. a. 0., S. 15). 

Die bisherigen Ausführungen, unter besonderer Berücksichtigung der mathematischen Wahrscheinlichkeitsrechnung, erlauben nur noch den Schluß, daß es sich bei den Johan­nissteinen um den Rest einer astronomischen Ortungsanlage handelt.

Alle bisherigen Vermessungen, Berechnungen, jahrelangen Beobachtungen der wichtigen Sonnenauf- und Sonnenuntergänge und die Nachprüfungen durch Prof. Bartholomäus, Universität Essen, ergeben für die Johannissteine ein Sonnenbeobachtungssystem, das auch heute noch die Funktion eines astronomischen Säkularkalenders erfüllt.

„Das System der Sonnenbeobachtung" an den Johannissteinen Die Abbildungen 4 und 5 sollen dies veranschaulichen.

Bevor auf das System im einzelnen eingegangen werden kann, sind einige allgemeine Ausführungen und Angaben unumgänglich. 

Nach R. Müller (a. a. 0., S. 15) ist die Sonne ein ideales Gestirn für die Anlage eines einfachen Kalenders, da ihr Lauf sich nur geringfügig ändert; in hundert Jahren etwa 0,01°. Setzt man die Entstehungszeit dieser Anlage mit allem Vorbehalt, auf Grund der an den Findlingen vorgefundenen Einmeißelungen und der im Umkreis gefundenen und datierten Artefakte (s. meine Veröffentli­chung vom Febr. 1981) mit 1000 bis 1800 v. Chr. an, resultiert für die Sonne hieraus eine Abweichung von nur 0,38°.

Ich verzichte auf die Angabe weiterer himmelskundlicher Größen und gebe nur noch die von Prof. Bartholomäus dankenswerter Weise errechneten Koordinaten und Azimute an (unveröffentl. Manuskript, Essen, 1982).

Geograph. Koordinaten der Johannissteine: Breite = 52°; Länge = 9° 12' Min. Azimute (a) zum Zeitpunkt der vermute­ten Entstehungszeit 1.800 v. Chr.

SSW = Sommersonnenwende (Windelstein/Lemgo) a = 50,1°

WSW = Wintersonnenwende (Leistrup/ Detmold) a = 130,2°

 Tagundnachtgleichen (Äquinoktien; Rotenberg/Heiden) a = 91,3°

(Das Azimut zur Zeit der Tagundnachtgleichen - Frühlings- und Herbstanfang - ist immer 90° bzw. 270°, sofern das Gelände annähernd horizontal ist).

Die vermuteten Sonnenbeobachtungsposi­tionen dürften ca. 15 - 18 m von den beiden Hauptsteinen entfernt gelegen haben. Die Punkte a bis f (s. Abb. 4) dienen lediglich der Erläuterung. Sie sind nicht unbedingt iden­tisch mit den vorhistorischen Beobachtungsstellen. Am ehesten ist dies für Punkt a wahrscheinlich; ihm könnte Stein 3 entsprochen haben. Die Punkte a, b und c müßten sich über heutigem Geländeniveau befunden haben, wie dies ja heute noch für Stein 3 gilt. Von Punkt a aus läßt sich der Sonnenaufgang zur SSW am 21.6. über dem Fünfkantloch 1 (Az. 50,1°) am Windelstein bei Lemgo beobachten.

In der Abb. 5 sind die Auf- und Untergangspunkte der Sonne in den Wenden, zu den Tagundnachtgleichen und die Nord-Süd-Achse eingezeichnet. Von den Johannisstei­nen aus gesehen geht die Sonne am 21.6. (SSW) über dem Windelstein (347 m) bei Lemgo auf (Az. 50,1°; Entfernung ca. 12 km). Auf diese Tatsache weist schon Meier-Böke in seinem Aufsatz „Die Ortung von Lemgo in Lippe" hin (Leipzig, 1937, 9. Jahrg., Heft 3). Der Sonnenaufgang zu den Tagundnachtgleichen (23.3. und 23.9.) erfolgt am markanten Nordhang des Rotenberges (230 m; Entfernung ca. 4,5 km). Der Sonnenaufgang zur Wintersonnenwende (22.12.) erfolgt in der Nähe von Detmold (Beerentrup bei Leistrup); Azimut 130,2°, Entfernung ca. 11 km.

Zur genauen Fixierung dieses Sonnenaufgangs läßt sich kein markanter Berg, Taleinschnitt o. ä. am Horizont finden. Erfreulich und sicherlich nicht zufällig läßt sich nun gerade dieser SA mit Hilfe sog. Gnomonen, die in die beiden Fünfkantlöcher zu stellen sind, genau beobachten (s. Abb. 3). In umgekehrter Richtung gilt gleiches für den Sonnenuntergang zur Sommersonnenwende am 21.6. beim Azimut 311°. 

Die Sonnenuntergangspunkte zur WSW und zu den Tagundnachtgleichen sind hingegen wieder durch markante Berge am Horizont bestimmbar. So geht die Sonne am 22.12. (Az. 231°) am Stapelager Berg (365 m) unter; ihr letztes Aufblitzen erfolgt in der Stapelager Schlucht. Zur Tagundnachtgleiche (23.3. und 23.9.) geht die Sonne am Ebberg bei Hillegossen unter (309 m); heute steht dort der weithin sichtbare „Eiserne Anton". Zusammenfassend ist zum großen Kreis des Himmelsrandes (Abb. 5) festzuhalten:

Drei der vier wichtigen Sonnenaufgänge des Jahres und drei der vier wichtigen Sonnenuntergänge sind von den Johannissteinen aus durch markante Berge am Horizont minutiös feststellbar. Die Richtungen, in denen sich keine markante Erhebung am Horizont findet (SA zur WSW und SU zur SSW), sind mit Hilfe der beiden Fünfkantlöcher auf Stein 1 eindeutig bestimmbar. Im Vergleich mit den Externsteinen (s. S. 1) bleibt festzuhalten, daß von den Joh.-St. aus die vier wichtigen Sonnenauf- und Sonnenuntergänge eindeutig markiert sind, während dort nur die Sommersonnenwende innerhalb des Beobachtungsraumes (Sarcellum) zu fixieren ist.

 Die Kalenderanlage unter siedlungsgeographischem Aspekt

Von besonderem Reiz sind mögliche Beziehungen zwischen dieser Kalenderanlage und anerkannten vorchristlichen Siedlungsplätzen des heimischen Raumes.

A. W. Peter führt in seinem Buch „Pflug im Wappen“ sinngemäß aus: Zu den Siedlungen um Lage mit der ältesten Namensschicht könnten folgende gehören: der Sülte(-hof), Heßloh, Heiden und Hagen. „Sie gehen auf die Zeit vor 500 v. Chr. zurück." Peter nimmt weiterhin an, daß zu den Höfen der „ersten Gruppe" neben den o. g. Iggenhausen, Stapelage, Haverjoh, Ottenhausen und Windhausen zu rechnen sind (a. a. 0., S. 32). Da nach seinen Ausführungen die Höfe Ottenhausen und Windhausen „als frühgeschichtlich" anzusprechen sind, bleiben 7 (resp. 6) Höfe als urgeschichtlich übrig (a. a. 0., S. 32).

Von diesen 7 ältesten Höfen liegen bemerkenswerterweise 5 auf einer der SA­ bzw. Sonnenuntergangslinien, die von den Joh.-St. aus zu beobachten sind. Heßloh liegt mit einer gewissen Abweichung auf der SA-Linie zur SSW; der Sültehof und der Urhof Meier zu Heiden auf der SA-Linie zum Frühlings- resp. Herbstanfang; der Meierhof zu Stapelage auf der SU-Linie zur Wintersonnenwende und Gut Iggenhausen auf der SU-Linie zur Sommersonnenwende.

Es bleibt die Frage, ob der Mittelpunkt der Siedlungsräume (Thingplatz, Gerichtsstätte, Kultstätte) nach den Linien der Kalenderan­lage angelegt sein könnte. Heute findet man auf diesen Linien die ältesten Kirchen Lages. Dies wird nach Möller leicht verständlich, da nach seinen Ausführungen die Urkirchen Lages (Helden, Stapelage und Marktkirche zu Lage) entweder auf den dominierenden Ur­Höfen selbst oder im engen Zusammenhang mit diesen errichtet worden sind („Kirche ... in Lage", Heimatland Lippe, Detmold, 1975).

Gleiches gilt für die nicht mehr existierende Kapelle von Heßloh; nach Hüls („Die Kapellen des Kirchspiels Heiden; Lippische Rundschau, Okt. 1961, Heimatbeilage) Filialkapelle von Heiden und 1535 urkundlich erwähnt und für die "Eigenkirche" des Gutes Iggenhausen von L. Möller im Zus. mit der Gründung der Marktkirche Lages genannt (a. a. 0., S. 93).

Es würde den Rahmen dieser Veröffentlichung sprengen, alle vor- und frühgeschicht­lichen menschlichen Bauwerke nennen zu wollen, die sich mit äußerst geringen Abweichungen auf den in Abb. 5 eingezeichneten Achsen der Steinernen Kalenderanlage finden lassen. Erwähnt seien:

1. Die besondere Häufung von Hügelgräbern auf der SU-Linie zur Sommersonnenwende (Az. 311°).

2. Weitere Urhöfe auf verschiedenen Linien innerhalb und außerhalb Groß-Lages. Damit im Zusammenhang wieder Kirchen und Kapellen. 

3. Von besonderem Reiz hat sich die Nord-Süd-Linie erwiesen. Auf dieser Linie liegt in Richtung Norden nach ca. 15 km (Abweichung + 1°) der sog. Wittekindsstein auf dem Grundstück des Hartwigs-Hofes in der Bauernschaft Solterwisch in Exter.

„Es geht die Sage, daß sich an diesem Stein, dem Lieblingsaufenthalt des Sachsenherzogs, einst Kaiser Karl und Wittekind die Hand zum Friedensbunde gereicht haben. Später soll hier ein Freigerichtsstuhl gewesen sein" (Schönebeck, E., „Mein Wittekindsland" Herford, 1968, S. 175). In Richtung Süden finden sich auf diesem Meridian nach ca. 14 km im Gebiet Eckelau und Langelau mehrere Hügelgräber (sog. Dreihügelheiligtum) und dicht dabei die sog. „Rennbahn". Es sei nicht verschwiegen, daß es sich bei diesen vor- u./o. frühgeschichtlichen menschlichen Schöpfungen um „wissenschaftliche Streitpunkte" - speziell auch in Lippe - handelt.

Zusammenfassung

Folgendes sei herausgestellt:

1. Der älteste mir bekannt gewordene Bericht über die Johannissteine stammt von 1816.

2. Dünnschliffuntersuchungen der Universitäten Münster, Greifswald und Upsala (Schweden) von 1926 klären die Herkunft der Findlinge.

3. Gründe, die für eine astronomische Ortungsanlage sprechen:

a) Die Hauptachsen der Steine 1 und 2 liegen rechtwinklig zueinander. Stein 1 in Nord-Süd, Stein 2 in Ost-West-Richtung.

b) Die beiden Fünfkantlöcher auf Stein 1 liegen genau in der Sonnenaufgangsrichtung der Wintersonnenwende (resp. SU zur SSW).

c) Die Wahrscheinlichkeit, daß dies eine steinerne Kalenderanlage war (und noch sein könnte), beträgt 99, 998 %.

d) Die Findlinge liegen auf dem „Johannisberg", der auch heute noch mehr oder weniger freie Sicht auf alle SA und SU gewährt.

   e) Die drei Langkerben auf der Südkante von Stein 1 können als „astronomische Merktafeln" gedeutet werden.

   f) Die Anlage befindet sich in zentraler Lage innerhalb des Westlippischen Berglandes. g) Weitere Findlinge im Nahbereich der drei Hauptsteine lassen auf eine größere Anlage (Steinkreis?) schließen.

   h) Sind die Mittelpunkte (Thingplätze etc.) der Siedlungsräume nach den, Linien der Kalenderanlage angelegt?

Schlußbetrachtungen

Sicherlich bleiben beim Leser noch viele Fragen offen. Diese Zeilen sollen vor allem Anlaß zu weiteren Untersuchungen, kritischen Fragen und konstruktiven Beiträgen zur Erforschung dieser Anlage sein. Darüber hinaus wünsche ich mir:

Zum ersten, daß die Johannissteine und ihr Umfeld durch diese Ausführungen endgültig aus ihrem „kulturhistorischen Dornröschenschlaf" aufgeweckt werden (Neumann/Lippek, a. a. 0., S. 48). Aus, aktuellem Anlaß wäre es als zweites wichtig, daß diese Zeilen dazu beitragen, den kulturhistorischen Wert der Johannissteine und des dazu notwendigen Umfeldes (Sonnenauf- und Sonnenuntergangsbereiche) in Lippe und vor allem in Lage umfassender zu erkennen.

Als drittes, vielleicht das wichtigste, soll diese Veröffentlichung dazu beitragen, uns jenen Tag näherzubringen, an dem man auch in Lippe in begründeter und sachlicher Form über die steinernen Zeugen unserer Vor- und Frühgeschichte wieder miteinander reden kann (s. Einleitung, John Michell).

 Dankeswort

Ich danke Herrn Prof. Karl Bartholomäus, Essen, für seine Hinweise und für seine Überprüfung an Ort und Stelle. Ebenso danke ich Herrn Wolfgang Lippek für die redaktionelle Überarbeitung des Manuskriptes.